Für ein paar graue Januar-Wochen habe ich noch einmal das Dorfleben ausprobiert. Als ich Teenie war, hatte ich das Leben im 3000-Seelen-Dorf, in dem ich geboren und aufgewachsen war, satt. Ich hatte das Gefühl, niemals nur ich sein zu können. Ich war immer die Tochter von, die Schwester von, die Nichte von oder die Enkelin von irgendjemandem. Ich wusste nicht so genau, wer ich war. Wer weiß das schon in dem Alter? Aber es gab kaum Spielraum, verschiedene Seiten der Persönlichkeit auszuprobieren. Das Dorf hatte Augen und sah alles, und auch Münder, welche das Gesehene weiterberichteten. Jeder von uns 3000 war in eine Rolle hineingeboren, und es würde viel Kraft kosten, da auszubrechen.
Mit 17 wechselte ich die Schule und zog in die 30 Kilometer entfernte Stadt. Ich bewohnte eine kleine Wohnung mit einer Freundin und bekam viel Verantwortung aber auch die pure Freiheit – auf einen Schlag vielleicht mehr, als ich verlangt hatte. Es war ein Neuanfang und es war toll. Ich konnte eine neue Rolle in der Schule ausprobieren, keiner kannte mich und erst recht nicht meine Eltern. Kontrollanrufe von zu Hause? Fehlanzeige! Damals gab es keine Handys, und wir als Schülerinnen hatten aus Kostengründen nicht mal ein Festnetztelefon in unserer Bude.
Seitdem habe ich ein bisschen hier und ein bisschen dort gewohnt, aber bis auf ein paar längere Sommeraufenthalte, als meine Kinder klein waren, nie wieder in meinem Heimatdorf gelebt. Bis jetzt. Nun habe ich keine kleine Kinder zu hüten, kann keine lauen Sommernachmittage am See genießen, habe keine witzigen Grillabende im Garten mit Geschwistern und Freunden. Stattdessen Januar-Alltag im Rentnerhaushalt meiner Eltern. Da ich ja noch keine Rentnerin bin und nicht übertrieben gut im Nichtsmachen, hatte ich mir schon ein paar Aufgaben gestellt und mir vorgenommen, einem halbwegs geregelten Arbeitsalltag nachzugehen.
Ich hatte mir auch vorgenommen, Freunde von früher zu treffen und viel im Wald zu spazieren. Ich bin nicht übertrieben scharf auf die Tiere, die da leben, mag aber den Geruch, die Bäume und den moderigen Boden, der nachgibt, wenn man darauf geht.
Die erste Woche lief gut: Ich schrieb, ich verbrachte Zeit mit meinen Eltern, es kam Besuch, und ich lungerte im Wald herum. Nach einer Woche war ich guten Mutes und dachte, dass auch das Dorfleben durchaus seine guten Seiten hätte.
Dann verletzte ich mich am Knie, und es war Schluss mit einigen Dingen. Es war Schluss mit Treppensteigen, über Hügel zu gehen oder mich überhaupt in der Nähe von Kopfsteinpflastern aufzuhalten. Da artete das Dorflebenexperiment zum Arbeitslager aus. Ich konnte nur sitzen. Sitzen und Schreiben verträgt sich gut. Also saß ich und schrieb. Ich bekam schon mal Besuch, ich wurde bekocht, und ich konnte zuerst sehr gut mit diesen Schmerztabletten schlafen. Aber es war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte! Und ich bekam Angst – wie sollte ich nach Hause kommen? Wie sollte ich mit dem Zug fahren können, wo ich in Kopenhagen nur sieben Minuten zum Umsteigen hätte?
Langsam stellte sich heraus, auch wenn ich viel Zeit in meinem schwedischen Dorf verbringe, viele Freunde treffe und einen schwedischen Pass habe – mein Zuhause ist es nicht mehr so richtig. Mein Zuhause ist da, wo mein Mann und meine Kinder sind, da, wo ich seit über zwanzig Jahren lebe. Mag sein, dass es wenig Waldboden in meiner zweiten Heimat gibt, aber es gibt auch keine ruckeligen Straßenbahnen, die einem die Knie kaputtmachen. Vor- und Nachteile haben beide, die Heimat eins und die Heimat zwei.
/carina